Sich selbst treu zu bleiben, ist leichter gesagt als getan – besonders in einer Branche, in der das Neue über Nacht das Alte verdrängt. Nina Suess hat früh verstanden, dass Stil weit mehr ist als ein flüchtiger Trend. Im Gespräch erzählt Sie, warum Stil und Selbstliebe für Sie untrennbar verbunden sind und wieso es manchmal Mut braucht, sich selbst zu entdecken, bevor man sich der Welt zeigt.
Was eint Menschen, die über Jahre hinweg an der Spitze einer Branche bestehen, die sich ständig neu erfindet und ihre „Stars“ ebenso schnell fallen lässt, wie sie sie feiert? Die Antwort liegt in einem klaren, unerschütterlichen Bekenntnis zu sich selbst und zum eigenen Ausdruck. Genau das erklärt auch, warum Nina Suess, die vor über zehn Jahren einen gleichnamigen Fashion-Blog gründete, bis heute zu den prägenden Gesichtern der deutschen Mode- und Lifestyle-Szene zählt. Von kurzfristigen Trends oder bloßem Opportunismus ließ sich die ebürtige Münchnerin, die mittlerweile in London lebt, nicht treiben. Als Content Creatorin und Unternehmerin folgte sie stattdessen konsequent ihren eigenen Interessen. Auch als sie diese zeitweise in andere Bereiche wie die Kunstwelt – sie ist Mitgründerin der Pop-up Art Gallery BAODT – führten. Was ihr dabei half? Neben einer pragmatischen, toughen „Hands-on“-Mentalität sicherlich auch ihr breit aufgestellter Hintergrund, der weit über Mode hinausreicht. Über genau diesen Weg und über eine ganz grundsätzliche Frage, die jeder für sich beantworten muss, um zu einem eigenen Stil zu finden – und die erstaunlich wenig mit Mode zu tun hat – haben wir mit der Influencerin am Rande unseres Shootings für die aktuelle Ausgabe gesprochen.
Sie haben Kunstgeschichte und Archäologie studiert – wie kommt man von diesem Ausgangspunkt in das Influencer-Business?
Die Story ist sogar noch außergewöhnlicher. Mein Vater war Astrophysiker, deshalb habe auch ich erst mal angefangen, an der LMU in München Physik zu studieren. Bis ich 20 wurde, habe ich mein ganzes Leben auf eine Zukunft in der Physik ausgerichtet und sogar schon in der Schule ein Praktikum bei der Europäischen Weltraumorganisation gemacht. Aber ich war weit davon entfernt, Klassenbeste in Physik zu sein. Ab einem gewissen Punkt konnte ich einfach nicht mehr mithalten. Manchmal denke ich mir, ich hätte mich mehr durchbeißen sollen, aber dafür hatte ich nicht die Entschlossenheit.
Worauf achten Sie, und wie gehen Sie vor? Wahre Entschlossenheit fühlt man ja auch meist erst dann, wenn man zu 100 % sicher ist, das Richtige gefunden zu haben. Es klingt, als wäre für Sie einfach etwas anderes bestimmt gewesen.
Das stimmt, Physik und ich – das sollte wohl nicht sein. Ich habe beschlossen abzubrechen und mich verloren gefühlt, immerhin hatte ich vorher nie über einen anderen Weg für mich nachgedacht. Dann habe ich erst mal Kunstgeschichte studiert und Archäologie und Informatik als Nebenfach dazugenommen. Das war rückblickend betrachtet das Beste, was ich hätte tun können. Denn dadurch konnte ich 2013 meine allererste Website selbst programmieren.
Haben Sie jemals darüber nachgedacht, dass Sie als Frau in der Welt der Physik auch eine Vorreiterrolle hätten einnehmen können?
Ja, aber vielmehr sehe ich, was ich davon in mein jetziges Tun mitnehmen konnte. Physik ist sehr unaufgeregt. Wenn es drei Stunden dauert, eine Gleichung zu lösen, dann ist das eben so. In der Welt, in der ich jetzt bin, herrschen dagegen ständiger Zeitdruck und Hektik. Davon will ich mich nicht treiben lassen. Ich bin jemand, der immer sagt, das kriegen wir hin – aber realistisch bleibt.
Was bedeutet das für Sie? In der Wissenschaft hätte Ihr Geist im Mittelpunkt gestanden, in der Modebranche spielt natürlich auch das Äußere eine große Rolle. Wie gehen Sie damit um?
Darüber denke ich gar nicht so viel nach, weil ich während meines Studiums und sogar schon während der Schule gemodelt habe. Das heißt, dieser Aspekt war schon immer Teil meines Lebens. Ich glaube auch, dass mein Erfolg auf Social Media mehr von meinen Styling-Tipps rührt als nur von meinem Aussehen.
Scrollt man durch Ihren Feed, wirkt Ihre Ästhetik sonnendurchflutet, positiv und auf klassische Weise „schön“. Wie sind Sie damit umgegangen, dass die Mode viele Saisons lang von einem eher düsteren „Ugly Chic“ beeinflusst wurde, was sich gerade erst wieder ändert?
Natürlich habe ich bemerkt, dass ich zeitweise dem Zeitgeist nicht gefolgt bin, aber ich war noch nie ein trendgeleiteter Mensch. Ich trage immer das, worauf ich Lust habe und was meinem Körper schmeichelt. Ich bin kein Strich in der Landschaft, sondern ein bisschen kurviger, und damit habe ich einen guten Umgang gefunden. Ich weiß nicht, ob mich die cool kids der Gen Z inspirierend finden, aber ich bekomme viel Anerkennung dafür, dass ich bei mir bleibe und nicht das trage, was gerade alle tragen. Ich lese oft Kommentare von Menschen, die sich freuen, einen Stil zu sehen, der etwas nahbarer wirkt. Nicht alle suchen das Extreme.
Wie groß ist aber in einem Business, in dem ein derart hoher Konkurrenzdruck herrscht, die Versuchung, sich nicht doch anzupassen? Immerhin geht es auch um Kollaborationen, Werbeaufträge, Followerzahlen …
Dafür bin ich zu stur und eine zu entschiedene Individualistin. Natürlich hätte ich vielleicht mehr Aufträge eintüten können, wenn ich mit Trends gegangen wäre. Aber gleichzeitig bin ich der Meinung, dass Mode einfach Spaß machen und dem eigenen Ausdruck dienen sollte. Wenn sie diesen Aspekt verliert, was bleibt dann?
Generell scheint es gerade einen Wandel zurück zur Eleganz zu geben. Als würden sich Menschen angesichts einer rauen Welt umso mehr nach dem Schönen sehnen.
Ja, das bemerke ich auch. Schon allein dadurch, dass die Kollektionen für mich wieder tragbarer werden. Aber so ist es doch immer: Auf eine Bewegung folgt die Gegenbewegung und so weiter … Immer mal wieder geht man durch Phasen, in denen man sich nicht ganz gesehen fühlt, aber ohne diese ständige Veränderung wäre es doch auch weniger spannend, oder?
Welche Labels würden Sie aktuell jemandem empfehlen, der sich nach klassisch schöner Mode sehnt?
Chloé – was Phoebe Philo entwirft, finde ich traumhaft. Was mir auch wahnsinnig gut gefällt, ist Fendi – eine meiner Lieblingsmarken, seit ich denken kann. Ich mag einfach opulente Stoffe, bei denen man die Qualität spürt. Ich habe gar keine Lust, einen schwarzen Hoodie für 800 Euro zu kaufen. Ich will Struktur, elegante Schnitte, weiches Leder. Sprich: Ich will für mein Geld etwas geboten bekommen.
Würden Sie sagen, dass es heute überhaupt noch einen Unterschied zwischen Influencer und Celebrity gibt?
Das ist eine gute Frage. Ich denke ja. Ich sehe mich selbst eher als jemanden, der einen Service anbietet – ich gebe Inspiration. Wenn du morgens nicht weißt, was du anziehen kannst, und eine Idee brauchst, dann bin ich da. Das ist mein Job. Deshalb wirst du auf meinem Account auch wenig Privates sehen. Celebrities sind in meinen Augen eher für allgemeines Entertainment da.
Persönlicher Stil hat so viel damit zu tun, wie Sie aufgewachsen sind, welche Interessen Sie haben, wie Sie sich selbst als Mensch sehen. Inwiefern hat das Ausleben des eigenen Stils auch mit Selbstwertschätzung und Selbstliebe zu tun?
Dem stimme ich zu 100 % zu, das geht Hand in Hand. Der Spruch „Sei einfach du selbst“ wird oft so schnell dahingesagt, aber kaum jemand setzt ihn um. Denn es geht ihm ja die Frage voraus: Wer bin ich überhaupt? Viele Menschen sind viel zu beschäftigt damit, sich auf eine Weise darzustellen, die ihnen gar nicht wirklich entspricht. Man muss sich selbst erst als Mensch entdecken, bevor man zu einem eigenen Stil finden kann. Dazu gehören Experimente und auch mal Fehlgriffe. Und diesen Raum darf man sich geben. Das geht nicht von heute auf morgen. Und ja – das hat definitiv mit Selbstliebe zu tun.
Fotografie KATIA WIK Interview ANN-KATHRIN RIEDL Styling GÖTZ OFFERGELD Talent NINA SUESS
Haare & Makeup OLIVER HÄNISCH Produktion LUIS DANKE Fotografie-Assistenz MARK SIMPSON Styling-Assistenz CHIARA ANZIVINO & EDDA SEIBERT Produktions-Assistenz ELVIN AYANOGLU